Da lieb Rapunzel die Haarflechten herab, und die Zauberin stieg zu ihr hinauf. Ist das die Leiter auf wel- cher man hinauf kommt", sprach der Konigssohn, "so will ich auch einmal mein /79/Gluck versuchen". Und den folgenden Tag, als es anfieng dunkel zu werden, gieng er zu dem Thurme und rief
"Rapunzel, Rapunzel,lab dein Haar herunter."
Alsbald fielen die Haare herab, und der Konigssohn stieg hinauf.
Anfangs erschrack Rapun- zel gewaltig, als ein Mann zu ihr herein kam,wie ihre Augen noch nie einen erblickt hatten, doch der Konigssohn fieng an ganz freundlich mit ihr zu reden und erzahlte ihr, dab von ihrem Gesang sein Herz so sehr sey [4. u. 5.Auf: sei] bewegt worden, dab es ihm keine Ruhe gelassen, und er sie selbst habe sehen mussen. Da verlor Rapunzel ihre Angst, und als er sie fragte, ob sie ihn zum Manne nehmen wolle,und sie sah, dab er jung und schon war, sodachte sie "der wird mich lieber haben als die alte Frau Gothel", und sagte ja und reichte ihm ihre Hand. Sieverabredeten, dab er alle Abend zu ihr kommen sollte, aber die Zauberin, die nur bei Tage kam,merkte nichts davon, bis einmal Rapunzel anfieng und zu ihr sagte "sag sie mir doch, Frau Gothel, wie kommt es nur, sie wird mir viel schwerer heraufzuziehen als der junge Konigssohn, der ist in einem Augenblick bei mir". "Ach du gottloses Kind", rief die Zaube- rin"was mub ich von dir horen, so hast du mich doch betrogen!" Und in ihrem Zorne packte sie die schonen Haare der Rapunzel, schlug sie ein paar Mal um ihre linke Hand, griff eine Scheere mit der rechten, und ritsch, ritsch, waren sie abgesch- nitten, und die schonen Flechten lagen auf der Erde. Und sie war so un/80/barmherzig, dab sie die arme Rapunzel in eine Wustenei brachte, wo sie in grobem Jammer und Elend leben mubte.
Denselben Tag aber, wo sie Rapunzel verstossen hatte, machte die Zauberin Abends die abgeschnitte- nen Haare oben am Fensterhacken fest, und als der Konigssohn kam und rief
"Rapunzel, Rapunzel, b dein Haar herunter"
so lieb sie die Haare hinab, aber der arme Konigssohn fand oben nicht seine liebste Rapunzel, sondern die Zauberin, die ihn mit bosen und giftigen Blicken ansah, und zu ihm sprach "fur dich ist Rapunzel verloren, du wirst sie nie wieder erblicken". Der Konigssohn gerieth auber sich vor Schmerz und in der Verzweiflung sturzte er sich den Thurm herab: das Leben brachte er davon, aber die beiden Augen waren verletzt. Blind irrte er im Wald umher, ab nichts als Wurzeln und Beeren, und that nichts als jammern and weinen uber den Verlust seiner liebsten Frau. So irrte er einige
c.Die Grimmsche Fassung der sechsten und siebten Aufage (1850,1857)
/65/Es war einmal ein Mann und eine Frau,die wunschten sich schon lange vergeblich ein Kind, endlich machte sich die Frau Hoffnung, der liebe Gott werde ihren Wunsch erfullen. Die Leute hatten in ihrem Hinterhaus ein kleines Fenster, daraus konnte man in einen prachtigen Garten sehen, der voll der schonsten Blumen und Krauter stand;er war aber von einer hohen Mauer umgeben, und niemand wagte hinein zu gehen, weil er einer Zauberin gehorte, die grobe Macht hatte und von aller Welt gefurchtet ward [6.Aufl.: wurde]. Eines Tags stand die Frau an diesem Fenster und sah in den Garten hinab, da erblickte sie ein Beet, das mit den schonsten Rapunzeln bepflanzt war; und sie sahen so frisch und grun aus, dab sie lustern ward und das grobte Verlangen empfand, von den Rapunzeln zu essen. Das Verlangen nahm jeden Tag zu,und da sie wubte, dab sie keine davon bekommen konnte, so fiel sie ganz ab,sah blab und elend aus. Da erschrak der Mann und fragte: "was fehlt dir,liebe Frau?""Ach", antwortete sie,"wenn ich keine Rapunzeln aus dem Garten hinter unserm Hause zu essen kriege, so sterbe ich". Der Mann, der sie lieb hatte, dachte: "eh du deine Frau sterben lassest, holst du ihr von den Rapunzeln, es mag kosten was es will". In der Abenddammerung stieg er also uber die Mauer in den Garten der Zauberin, stach in aller Eile eine Hand voll Rapunzeln und brachte sie seiner Frau. Sie machte sich sogleich Salat daraus und ab sie in voller Begierde auf. Sie hatten ihr aber so gut, so gut geschmeckt, dab sie den andern Tag noch drei/66/mal soviel Lust bekam. Sollte sie Ruhe haben, so mubte der Mann noch einmal in den Garten steigen. Er machte sich also in der Abenddammerung wieder hinab,als er aber die Mauer herabgeklettert war, erschrak er gewaltig, denn er sah die Zauberin vor sich stehen. "Wie kannst du es wagen", sprach sie mit zornigem Blick, "in meinen Garten zu steigen und wie ein Dieb mir meine Rapunzeln zu stehlen? das soll dir schlecht bekommen". "Ach", antwortete er, "labt Gnade fur Recht ergehen, ich habe michnur aus Noth dazuentschlo- ssen: meine Frau hat eure Rapunzeln aus dem Fenster erblickt und empfindet ein so grobes Gelusten, dab sie sterben wurde, wenn sie nicht davon zu essen bekame". Da lieb die Zauberin in ihrem Zorne nach und sprach zu ihm "verhalt es sich so,wie du sagst, so will ich dir gestatten,Rapunzeln mitzunehmen so viel du willst, allein ich mache eine Bedingung: du mubt mir das Kind geben,das deine Frau zur Welt bringen wird.Es soll ihm gut gehen, und ich will fur es sorgen wie eine Mutter". Der Mann sagte in der Angst alles zu, und als die Frau in Wochen kam, so erschien sogleich die Zauberin, gab dem Kinde den Namen Rapunzel und nahm es mit sich fort.
Rapunzel ward das schonste Kind unter der Sonne. Als es zwo1f Jahre alt war, schlob es die Zauberin in einen Thurm, der in einem Walde lag und weder Treppe noch Thure hatte, nur ganz oben war ein kleines Fensterchen. Wenn die Zauberin hinein wollte, so stellte sie sich unten hin und rief
第三节 (4)
"Rapunzel, Rapunzel, lab mir dein Haar herunter."